Finanzpolitiker scheitern am Marshmallow-Test

Es gilt als bekanntestes Experiment der Psychologie: der Marshmallow-Test.

Ein Kind kann wählen zwischen einer sofortigen Belohnung in Form eines Marshmallows oder einer doppelten Belohnung, wenn es für diese eine Weile wartet. Kinder, die auf die doppelte Belohnung warten, sind tendenziell erfolgreicher im späteren Leben.

Wer warten kann, ist im Vorteil. Eltern erklären dies ihren Kindern: Investiere in eine gute Ausbildung – so dass du später davon profitieren kannst.

Was im Kleinen gilt, gilt auch im Grossen, zum Beispiel in der Wirtschaftspolitik. Ist ein Staat in seinen Ausgaben und der Konjunkturpolitik zurückhaltend, kann er langfristig von einer höheren Stabilität profitieren.

Doch dem Zeitgeist entspricht diese Zurückhaltung nicht. Im Gegenteil, im Kleinen und im Grossen scheint zu gelten: Alles, sofort und zwar für alle!

Vorbild dieser Mentalität sind die USA. Die fehlende Zurückhaltung sorgt für eine aussergewöhnlich hohe Dynamik. Der Konsum scheint keine Grenzen zu kennen, und hohe Investitionen sorgen für Innovation.

Doch die Mentalität zeigt sich auch in der Entwicklung der staatlichen Verschuldung. Zwar kennt die amerikanische Politik eine Schuldengrenze. Doch seit 1960 hat der Kongress 78-mal beschlossen, die Schuldengrenze dauerhaft anzuheben, vorübergehend zu verlängern oder die Definition zu ändern.

Dies geht lange gut. Doch die Stabilität bröckelt. Dies zeigt sich vorab in den Zinsen auf Schuldpapiere des amerikanischen Staates. Diese bewegen sich seit dem Jahr 2022 deutlich stärker, als sie zuvor bei einer gut laufenden Wirtschaft taten (vgl. Abbildung). Diese höhere Volatilität widerspiegelt die höhere Unsicherheit der Investoren, wie viel ihr dem Staat geliehenes Geld noch wert sein wird, wenn sie es zurückerhalten.

Das laufende Jahr 2025 wird dabei besonders spannend. Viele Schuldpapiere laufen aus. In der Hoffnung, dass die Zinsen rasch wieder sinken, hat das US-Schatzamt in den letzten Jahren vermehrt kurzfristige Schuldscheine ausgegeben. Nun müssen innerhalb eines Jahres staatliche Schuldpapiere in der Höhe von 30 Prozent der Wirtschaftsleistung ersetzt werden – ohne dass die längerfristigen Zinsen deutlich gesunken wären.

Denn die US-Zentralbank Federal Reserve hat die Kontrolle über die langfristigen Zinsen teilweise verloren. Seit sie im letzten Herbst die Leitzinsen gesenkt hat, sind die langfristigen Zinsen entgegen der Absichten angestiegen. Die Zinskosten werden für den Staat damit weiter ansteigen. Da gleichzeitig Zurückhaltung auch nicht den Charakter des wiedergewählten US-Präsidenten Donald Trump kennzeichnet, darf ein spannendes Jahr in den USA erwartet werden.


Ähnliche Entwicklungen finden sich allerdings in allen grossen Währungsräumen. Finanzpolitiker bestehen den Marshmallow-Test nicht: Der kurzfristige Zuckerschub wird der langfristigen Stabilität vorgezogen. Dies führt zu Unsicherheiten und verstärkten Bewegungen an den Finanzmärkten.

Die gute Nachricht dabei ist: Anleger können für sich selbst entscheiden, ob sie den Marshmallow-Test bestehen wollen. Gerade in einem unsicheren Umfeld ist besonders wichtig, nicht kurzfristig zu handeln. So rasch die Märkte steigen, können sie auch wieder fallen. Sinnvoller ist, sich für eine sinnvolle langfristige Strategie zu entscheiden, diese dann auch tatsächlich durchzuziehen und am Schluss von der doppelten Belohnung zu profitieren.

Über den Autor

Adriel Jost ist Fellow am Institut für Schweizerische Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern, Präsident des Think Tanks Liberethica und berät Kunden in makroökonomischen und politökonomischen Fragen als unabhängiger Ökonom. Adriel Jost studierte Volkswirtschaftslehre in St. Gallen, Singapur und Perth und promovierte in International Affairs & Political Economy an der Universität St. Gallen. Nach insgesamt acht Jahren bei der Schweizerischen Nationalbank, davon drei Jahre als Berater des Vizepräsidenten des Direktoriums, war er als Chefökonom bei Wellershoff & Partners tätig, bevor er Partner und CEO der Beratungsfirma WPuls AG wurde.

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